In der Zeit gab es letzte Woche einen tollen Artikel über ein psychologisches Phänomen, den sogenannten „normalcy bias“. Es gibt ja eine Menge solcher Modelle, die das manchmal irrationale Verhalten von Menschen zu erklären versuchen. Dieses Modell passt sehr gut in die jetzige Zeit, in der sich alles mit rasender Geschwindigkeit verändert, Grundannahmen über Bord geworfen werden müssen und man sich manchmal fragt, ob das alles noch normal ist.
Der normalcy bias beschreibt das Verhalten von Menschen in Ausnahmesituationen, die trotz offensichtlicher Bedrohungen versuchen, die Normalität aufrechtzuerhalten. Leider gibt es keine gute deutsche Zusammenfassung und Übersetzung, man kann es mit Normalitätsverzerrung übersetzen.
Das Modell erklärt plausibel, warum selbst in absurden Situationen die Menschen dazu neigen, weiter zu machen mit dem Gewohnten. Wir wissen zwar um die Krise, aber wir begegnen ihr mit der Hoffnung, das schon alles gut gehen wird, dass es normal bleibt.
Ein klassisches Beispiel dafür ist die Reaktion vieler Menschen im World Trade Center auf den Terroranschlag am 11. September 2001. (…) Befragungen von Überlebenden ergaben, dass viele erst einmal in Ruhe ihren Computer herunterfuhren, um den Arbeitsplatz ordentlich zu hinterlassen.
Aus dem Zeit-Artikel
Es ist schwer, dieser Verhaltensweise, die im Zweifelsfall tödlich sein kann, etwas entgegenzusetzen. Im Artikel werden zwei wichtige Ansätze genannt:
- Man muss um den Effekt wissen und ihn sich bewusst machen. Letztendlich sollte man sich immer wieder die Frage stellen, ob das Beobachtete noch normal ist (Schreien sich normalerweise Präsidenten, die im Oval Office sitzen, gegenseitig an?).
- Man sollte versuchen, „sich öffentlich der Normverschiebung [zu] verweigern“. Dies kann eine Teilnahme an einer Demonstration, eine öffentliche Äußerung oder eine Aktion des zivilen Ungehorsams sein.
Jetzt kenne ich den Effekt, dann geht es an die Verweigerung der Akzeptanz von Normverschiebungen. Es ist eben nicht normal, als Präsident zu brüllen, als Kanzlerkandidat Demonstranten als „Spinner“ zu bezeichnen, die „nicht alle Tassen im Schrank haben“ oder Mehrheiten mit der AfD im Bundestag zu akzeptieren.
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