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Warum der schlechte Ruf der Mathematik gefährlich ist

Eine Talk-Show mit vielen interessanten Leuten, insbesondere aus dem Kulturbereich. Der Gast wird nach seinen Erlebnissen in der Schule gefragt. Was wird unweigerlich kommen? Genau, der Hinweis das insbesondere Mathematik nicht sein bestes Fach ist. Ein Satz, bei dem man das verständnisvolle Lachen des Publikums auf ihrer Seite weiß. Der Gastgeber stimmt in das Kokettieren mit den schlechten Rechenleistungen ein, „wir wissen ja alle, wie das ist“. Offensichtlich ist es ein Alleinstellungsmerkmal der Mathematik, dass man in der Öffentlichkeit ohne Scham seine eigene Unkenntnis als Fähigkeit darstellen kann. So nach dem Motto: „Für Mathe blieb halt keine Zeit, musste unbedingt Gedichte interpretieren um zu einem echten Mensch zu werden“. Und mal ehrlich, bis auf ein paar Ingenieure sind nur wenige bereit, öffentlich zu sagen, dass ihnen Mathe Spaß gemacht hat und sie etwas mit Physik anfangen konnten, ist auf der Party eher kein Smalltalk Thema. Warum ist das nun gefährlich?

Unsere Welt ist komplex und wir versuchen, sie mit Zahlen zu beschreiben. Das gilt für Fragen der Wirtschaft, der Sozialpolitik und der Umwelt. Man kann mit Steffen Mau (1) dieser Tatsache kritisch gegenüberstehen, aber unbestritten brauchen wir ein Verständnis von Zahlen und deren Zusammenhänge, um komplexe Sachverhalte zu fassen. Ohne dieses Verständnis sind wir blind für unsere Umwelt, oder haben zu mindestens ein eingeschränktes Sehvermögen. Die Diskussion über die Klimakrise beispielsweise ist ohne Zahlen nicht denkbar. Wir nutzen Zahlen und Mathematik als Methode des Beweises von Zusammenhängen. Selbst bei komplexen Themen braucht es eine Normierung auf Zahlen, um Hintergründe sichtbar zu machen.

Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil unser Gefühl uns ohne die Veranschaulichung von Zahlen häufig in die Irre führt. Unser Gehirn ist beispielsweise extrem schlecht beim Abschätzen von Wachstumsprozessen. Wenn eine Änderung am Anfang klein ist, gehen wir davon aus, dass sie klein bleibt. Deswegen verschätzen wir uns immer dann, wenn dem Wachstum ein exponentieller Prozess zugrunde liegt. Die Legende vom Schachbrett ist dazu eine ewige Mahnung. Hier kann man sie nachlesen.

Unkenntnis von mathematischen Zusammenhängen bedeutet aber nicht, dass wir auf die Mathematik verzichten. Im Gegenteil, bei der Bewertung von Entscheidungen benutzen wir fast ausschließlich Zahlen, nur in Form von einer Einheit, der Einheit Geld. „Wieviel kostet es, wenn wir das Heizungsgesetz umsetzen?“, dazu hat jeder eine Meinung, und wir debattieren, wie viel uns Klimaschutz und Insektensterben kosten werden. Der große „Vereinfacher“ vor dem uns Steffen Mau in seinem Buch warnt, sind nicht Zahlen, sondern Euros. Wir nutzen Zahlen oft als Beweis, können mit ihnen aber nicht gut umgehen. Diese Unfähigkeit lädt zu Manipulation geradezu ein. Ein erschreckendes Beispiel dafür zeigte Herr Dobrindt bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes (2).

Fangen wir mal mit den Fakten an. Wir schauen uns – wie Herr Dobrindt – das sogenannte Personenpotential von links und rechtsextremistischen Gruppierungen an. Um mehr Übersicht zu bekommen, habe ich den Anteil der gewaltbereiten Personen weggelassen (3).

Beim Vergleich stellt man fest, das beide Formen des Extremismus wachsen, aber das Wachstum des rechts motivierten Personenkreises viel größer ist. 2024 sind ca. 50.250 Personen dem rechten Spektrum zuzuordnen, dem linken ca. 38.000, also ca. 12.250 Personen weniger, also sind auch die absoluten Zahlen des rechten Personenkreises höher.

Nun schauen wir uns mal an, wie Herr Dobrindt – immerhin Diplomsoziologe – uns die Daten präsentiert(4).

Er wendet einen sehr einfachen Statistik-Trick an, die Verschleierung durch Skalierung. Wenn man die y-Achsen Skalierung verändert, entsteht ein völlig neuer Eindruck. Hier die Veranschaulichung:

Der unbedarfte Betrachter bewertet die Situation nun anders. Wir neigen dazu, eine Grafik wie die linke Seite so zu lesen: „Das ist aber viel, und es kommt ja auch etwas dazu, das muss also wachsen.“ Damit wird das linke Personenpotenzial als bedrohlicher dargestellt, als es ist. In absoluten Zahlen und in der Bewertung des Wachstums ist das rechte Personenpotential viel bedrohlicher, weil es größer ist und schneller wächst.

Warum einem Diplomsoziologen so etwas „durchrutscht“ kann auch viel mit Sozialisation zu tun haben, insbesondere, wenn man eher konservativ aufwächst. Menschen, die den RAF Terror in Nachrichten erlebt haben, sind tendenziell auf dem rechten Auge blind, weil sie sich die Bedrohung nicht vorstellen können.

Zur Illustration hier die Anzahl der extremistischen Straftaten von links- und rechtsextremistischen Gruppierungen(4).

Um kompetent mitreden zu können, müssen wir diese elementaren Fähigkeiten der Interpretation von Zahlen gesellschaftlich verankern. Sonst sind wir Demagogie und Manipulation hilflos ausgeliefert. Also bitte widersprechen, wenn jemand sich auf einer Party mit fehlenden Mathekenntnissen brüstet. Das ist kein Zeichen von Coolness, sondern eher bedauernswert. Die gute Nachricht ist, es gibt mittlerweile exzellentes Lernmaterial, die Schulbücher unserer Kinder sind schon viel besser geworden (nur leider schaut oft nicht mal die Mathelehrkraft rein…).

(1) Steffen Mau, Das metrische Wir https://www.suhrkamp.de/buch/steffen-mau-das-metrische-wir-t-9783518072929

(2) Verfassungschutzbericht 2024 https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2025-06-10-verfassungsschutzbericht-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=4

(3) Mit folgendem Copilot Quote generiert: „Erstelle mit eine Tabelle des links/rechtsextremistischen Personenpotenzials seit 2015 in Deutschland basierend auf dem Verfassungsschutzberichten.“

(5) Mit folgendem Copilot Quote generiert: „Erstelle eine Tabelle der links/rechtextremistisch motivierten Straftaten seit 2015 in Deutschland basierend auf dem Verfassungsschutzberichten.“

(4) Volksverpetzer Bericht zur Dobrindt Vorstellung https://www.volksverpetzer.de/faktencheck/dobrindt-verfassungsschutz-berichte/ Die Quelle habe ich hauptsächlich zum Zitieren des Bildes benutzt, der Bericht ist mir etwas zu tendenziell

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