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Deformation Professionelle(1) – von Komplexität und Ingenieuren

Ich bin ein Ingenieur, und habe daher eine tiefe Abneigung gegen Dinge, die sich nicht einfach erklären lassen. In meiner Welt müssen Dinge erklärbar sein, weil es immer Beziehungen zwischen verschiedenen Ereignissen gibt, die sich aufdecken lassen. Der Zwang, alles einfach erklärbar zu machen, hat viele Innovationen erzeugt, ist aber so etwas wie eine Berufskrankheit, wenn modellhafte Vereinfachungen auf prinzipiell komplexe Probleme angewendet werden. Die naturwissenschaftliche Sichtweise hat unsere Berufsgruppe so erzogen. Insbesondere bei gesellschaftlichen oder sozialen Problemen kann diese Sichtweise zu unzulässigen Vereinfachungen führen. Dann versagt ein rein mechanisch-eindimensionaler Ansatz. Nun habe ich ein interessantes Buch (2) gelesen, das sich mit dieser Vereinfachung beschäftigt und der Komplexität ein eigenes Existenzrecht zubilligt, ohne dass dafür die naturwissenschaftliche Sichtweise aufgegeben werden muß.

In dem Buch „Komplexitäten“ von Sandra Mitchell(2) stellt sie folgende These auf: Neben dem reduktionistischem Ansatz von Wissenschaft, wo nach allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten in der Natur im Stile eines Newton gesucht wird, gibt es Fragestellungen, die sich nicht durch die Kombination weniger Parameter und deren Zusammenhänge erklären lassen. Insbesondere spielen dabei Faktoren aus unterschiedlichen Beschreibungsebenen eine gemeinsame Rolle. Als Beispiel nutzt sie die Frage nach der Entstehung von Depressionen, bei denen neben genetischen Dispositionen auch soziale und lebensgeschichtliche Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine Depression zu verursachen.

In dem Zusammenhang kann ich hier auch einen guten Podcast empfehlen, der sich mit der Epigenetik auseinandersetzt(3). Hier wird an einer Stelle ein faszinierendes Experiment beschrieben, was diese Komplexität sehr schön veranschaulicht. Dazu eine kurze Erklärung. In der Epigenetik betrachtet man, wie sich die Informationen in den Genen verändern können. Es ist nicht so, dass ein festes Programm durch die Gene gesteuert wird, sondern das je nach den Umständen Bereiche aktiviert oder ausgeschaltet werden. Dazu gibt es verschiedene Wege, die heute aus Zellen mit Hilfe von Analyseverfahren und der Bioinformatik ausgelesen werden können.

In dem Experiment wurden nun Studenten gebeten, für eine bestimmte Zeit nur mit einem Bein ein besonderes Trainingsprogramm zu absolvieren. Danach wurden aus beiden Beinen Zellen entnommen und der Aktivierungszustand der Gene ausgelesen und verglichen. Es stellte sich heraus, dass sich nur im trainierten Bein über 1400 Lesestellen in den Zellen verändert hatten. Für unser Thema lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen wäre es ohne die Bioinformatik kaum möglich, diesen Vergleich zu erstellen, denn die schiere Anzahl der zu betrachtenden Parameter – „Lesestellen“ – kann nicht auf einfache Faktoren reduziert werden. Das Problem ist also komplex. Zum Anderen wird hier nachgewiesen, dass das Verhalten eines Menschen Wirkungen auf den Zustand der Gene hat. Für die Medizin hat dies weitreichende Folgen, denn damit wird klar, dass die biochemischen Vorgänge in Zellen, die ja durch die Gene gesteuert werden, durch Verhalten verändert werden. Dies gilt nicht nur für körperliche Aktivität, man konnte auch nachweisen, dass sich soziale Ereignisse auf die Gene auswirken und sogar vererbt werden.

Diese Erkenntnisse der letzten Jahre machen klar, dass die Welt deutlich komplexer ist als der Newtonsche Apfel. Sandra Mitchell macht dazu einen Vorschlag für einen neuen Denkansatz, den sie “integrativen Pluralismus“ nennt. Drei Dinge sind dabei zu berücksichtigen. Pluralismus zu nutzen bedeutet, dass man mehrere Denkmodelle zur Erklärung von Phänomenen zulässt, die parallel existieren können. Dabei soll man sich von Pragmatismus leiten lassen. Nicht die größtmögliche Allgemeingültigkeit bestimmt den Wert der Modelle, sondern allein das passgenau Beschreiben des betrachteten Phänomens. Schließlich gilt es zu akzeptieren, dass die Passung zwischen Modellen und Phänomenen einer Dynamik unterworfen ist. Gibt es bessere Modelle, so muss man seine Sichtweise anpassen.

Dieser Ansatz ist nicht komplett neu. Spätestens seit die Debatte in der Physik um das Licht als Teilchen oder Welle geführt wurde, ist es möglich, verschiedene Modelle gleichzeitig für gültig zu halten. Als Ingenieur muss ich das – und vielleicht nicht nur ich – tiefer verinnerlichen. In meinem beruflichen Bereich, der Halbleiter-Technik, spielt dieser Ansatz schon länger eine große Rolle, weil die Anzahl der beeinflussenden Parameter riesig ist und statistische Effekte eine große Rolle spielen.

Was die These von Sandra Mitchell noch interessant macht, ist die Auswirkung auf die Beurteilung von sozial- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, die ja schon lange mit einem Nebeneinander von unterschiedlichen Modellen und Erklärungsansätzen arbeiten. Eine engere Zusammenarbeit von allen wissenschaftlichen Disziplinen kann uns neue Einsichten bringen „Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen.“, wie Sandra Mitchell in dem Untertitel ihres Buches schreibt.

Die These von Sandra Mitchell lädt nicht zu Beliebigkeit ein, ein großes Risiko bei diesem Ansatz. Sie schlägt dazu die Etablierung von Standards vor, um zu beurteilen, ob Modelle angemessen benutzt werden. Sie schreibt: „Die Standards, die eine bestimmte Abbildung rechtfertigen, setzen sich aus Maßstäben für Voraussagekraft, Widerspruchsfreiheit, Stichhaltigkeit und Relevanz zusammen.“[S.23]. Es wird also im Dialog der unterschiedlichen Wissenschaftsgebiete auch darum gehen, diese Standards und Maßstäbe zu definieren und transparent zu machen.

(1) Wikipedia Artikel zu Deformation Professionelle https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%A9formation_professionnelle?wprov=sfti1#

(2) Sandra Mitchell Komplexitäten https://www.suhrkamp.de/buch/sandra-mitchell-komplexitaeten-t-9783518260012

(3) Epigenetik Podcast https://www.ardaudiothek.de/episode/hoersaal-deutschlandfunk-nova/epigenetik-und-gesundheit-wie-wir-unsere-gene-beeinflussen-koennen/deutschlandfunk-nova/13990495/

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