Ich habe in der Grundschule versehentlich beinahe einen Mitschüler verletzt, eine große Turnmatte stürzte nach einer unbedachten Toberei von mir von der Wand direkt auf den Jungen. Das Geschrei in der Turnhalle und die Vorwürfe mir gegenüber waren groß. Im ersten Moment, als noch nicht klar war, wie schlimm es ist, schoss mir durch den Kopf, dass es allein meine Verantwortung war, wenn es schlimme Konsequenzen gegeben hätte. Ich erinnere mich, dass es im Umgang mit dem Jungen später immer eine merkwürdige Zwiespältigkeit gab. Zum einen eine erhöhte Aufmerksamkeit in der Hoffnung auf ein Wort der Vergebung, zum Anderen eine Schroffheit und Ablehnung, weil der Anblick des Jungen mich immer an den beschämenden Moment und die Schuld erinnerte. So geht es uns Deutschen mit Israel, obwohl hier die Schuld nicht aus einer unbedachte Bewegung, sondern aus einer von tiefem Hass gespeisten Vernichtungsabsicht erwuchs.
Als Nation wird uns diese zwiespältige Wahrnehmung immer begleiten: froh zu sein über die Gründung des Staates Israel und beschämt durch die immerwährende Erinnerung an die von Deutschen begangenen Gräueltaten, die damit verbundene Verantwortung. Wir sind mit diesem Gefühl sicher nicht allein, denn Antisemitismus ist nicht nur deutsch, auch wenn wir diese Irrlehre in das Extrem des Holocaust getrieben haben. Viele Staaten müssen sich die Frage stellen, ob sie, als die Juden Schutz vor der deutschen Mordmaschine suchten, angemessen reagiert haben. Der Staat Israel erinnert die Weltgemeinschaft immer wieder an dieses Unvermögen, gleichzeitig ist die Unterstützung der Gründung Israels durch die UN ein sichtbares Zeichen der versuchten Wiedergutmachung.
Der Junge aus der Grundschule war klein und schmächtig, nicht der beliebteste Junge in der Klasse. Das Ereignis stellte ihn in den Mittelpunkt, aber er wurde dadurch nicht beliebter. Bald winkten die anderen ab, wenn er auf die Situation hinwies, oder etwas übertrieb, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Meine Beziehung zu ihm blieb angespannt. Ich wüßte gern, wie es dem Schüler meiner Grundschulzeit jetzt geht, wie sich alles für ihn entwickelt hat. Unsere Wege trennten sich nach der vierten Klasse. Wir konnten nie ein normales Gespräch führen, nie über die Zwiespältigkeit reden, aber wir waren ja auch noch Kinder, mit vielen anderen Dingen beschäftigt.
Sicher, der Vergleich mit dem Verhältnis zwischen Staaten und dieser privaten Situation mag weit hergeholt sein, vielleicht sogar als unangemessen erscheinen, aber eine gewisse Parallele kann man schon ziehen. Eine Freundschaft zwischen uns konnte sich nicht entwickeln. So geht es auch dem deutschen und dem israelischen Staat. Eine echte Partnerschaft oder Freundschaft kann sich nicht entwickeln, weil das Getane, Erlebte und Betonen der Schuld einen normalen Umgang verbietet. Nicht weil es besser wäre, die Schuld tot zu schweigen. Eher um sie in ein geminsames Verhältnis zum Zukünftigen zu setzen, den Schwerpunkt auf das aus der Schuld und dem Leiden Gelernte zu legen. Deutschland und Israel könnten sich zu Anwälten für Menschenrechte und Humanität entwickeln, aus ihrer gemeinsamen Geschichte heraus. Man könnte das Besondere des israelischen Demokratie, seine Gefährdung durch die Raidikalität gemeinsam besprechen und vor den Gefahren warnen. Dazu bedarf es auch einer gesunden gegenseitigen Kritik, die in einer echten Partnerschaft notwendig ist, um lebendig zu bleiben. Noch immer kann die deutsche Seite angesichts des hohen deutschen „Schuldenkontos“ Kritik nur schwer äußern, noch immer die israelische Seite Kritik am eigenen Vorgehen nicht angemessen reflektieren. Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Staatsräson gegenüber Israel auch eine kritische Position ermöglichen kann. Solidarität mit Israel und die Kritik an der Kriegs- und Siedlungspolitik müssen keine Widersprüche sein, sondern müssen gleichzeitig möglich sein, ohne in alte Zuweisungen zu verfallen.
Meine Sicht spiegelt sich auch in einem Kommentar in der Zeit vom 10. Juli „Wer in der Mitte steht, macht sich verdächtig“ von Yassin Musharbash,, leider ist der Artikel hinter einem Bezahlvorhang. Lesenswert und mit mehr Hintergründen zum Thema.
Schreibe einen Kommentar