Wie geht man mit einer gesichert verfassungsfeindlichen Partei in einer Demokratie um? Kann es sein, dass die im Grundgesetz angelegten Schutzmechanismen zu stumpf sind, um die Verfassung vor ihren Feinden zu schützen? Von „Brandmauer“ bis Verbot wird politisch viel versucht. Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, hat einen umstrittenen Weg gewählt, die direkte Auseinandersetzung. Der Schritt selbst war umstritten, und jetzt benutzen die Gegner eines solchen Vorgehens die üblichen Mittel, um diese Entscheidung nachträglich zu diskreditieren. Sie weisen darauf hin, wie teuer das doch alles war [1].
Das ist mittlerweile ja ein beliebtes Argumentationsmuster, „das kostet zu viel Geld“: Bürgergeld, Flüchtlinge, Rentnerinnen, Kranke… Alles kostet was und das ist erstmal schlecht. Der Bundestag ist zu groß, „was das alles kostet“. Die Anfrage der SPD-Landtagsfraktion nach den Kosten des Streitgespräches zwischen Palmer und dem AfD-Landeschef ergab eine Summe von mehreren hunderttausend Euro für den Schutz der Teilnehmenden durch die Polizei. Auch innerhalb der Partei, die Palmer nahesteht, gibt es Kritik an dem Diskursversuch. Meine Sicht auf diese Aktion ist eine andere, ich glaube dass es diesen Diskurs braucht. Nicht als einzige Maßnahme, aber als eine unter vielen anderen. Ohne die argumentative Auseinandersetzung ist eine Demokratie nicht durch die Öffentlichkeit legitimiert. Das Beispiel der SPD Anfrage macht deutlich, dass wir argumentativ verarmen.
Wir können nur noch ökonomisch argumentieren, zu mindestens muss es immer einen ökonomischen Bezug haben. Natürlich ist dieser Aspekt wichtig, aber er wird zum einzigen Kriterium von Entscheidungen hochstilisiert. Die Diskreditierung von Umweltbewustsein, Menschenrechten und Verteilungsgerechtigkeit als „links-grün versiffte“ Themen schreitet seit der letzten Bundestagswahl voran. Die Wirtschaft ist in Gefahr, und damit Deutschland. Vorfahrt für die Automobilbranche und neue Kraftwerke, die Schlote müssen rauchen denn schließlich droht die De-Industrialisierung. Es wäre zwar angemessen, die Wirtschaft auf ihre eigene Verantwortung hinzuweisen und Kreativität einzufordern, aber vor lauter Abgas-Tricks und Cum-Ex Betrügereien kommt man als DAX-Vorstand ja gar nicht mehr dazu, sich den Markt anzuschauen. Fragt man Copilot nach dem Umsatz der Automobil-Branche, so werden 75-80% des Umsatzes deutsche Automobilhersteller im Ausland gemacht. Über 40% entfallen dabei auf China. Da hat unsere Autobranche wohl etwas verschlafen, aber da ruft man am besten einfach beim Kanzler an, schließlich ist man ja systemrelevant mit immerhin mehr al 700.000 Arbeitsplätzen. Neue Ideen braucht es da nicht..
Es wird unsere Staatsfinanzen sicher retten, wenn wir bei den geschätzten 3% von Totalverweigerern unter den Bürgergeld-Empfängern jetzt endlich mal die Daumenschrauben anlegen. Wir müssen eben der Wirtschaft wieder mehr Raum für Subventionen geben, mit denen der Staat das Industrie-Museum am Leben halten kann. Der Klimawandel läßt sich leider nicht weg sparen, vor allem nicht zugunsten einer Technologieoffenheit, die auch der Dampfmaschine und dem vom Pferd gezogenen Pflug die staatliche Förderung nicht entziehen will, über Dienstwagenprivileg und Autogipfel mit dem Kanzler.
Das faktenbasierte Argument wird gern zugunsten der freien – auch argumentenfreien – Meinungsäußerung in die akademische Blase verdammt. Wenn moderne Wissenschaft eine Wahrscheinlichkeitsaussage ist, kann man anfangen, an den Lottogewinn zu glauben – der Klimawandel wird schon nicht so schlimm werden.
Die Tübinger SPD-Landtagsabgeordnete beklagt, dass die „hohen Kosten (…) ohne Not herbeigeführt [wurden]“. Ich finde, wie Herr Palmer, dass man die Kosten notwendigerweise in Kauf nehmen muss. Der Versuch, sich mit der AfD auseinander zu setzen, ist riskant, vielleicht sogar nicht gelungen. Ihn aus Kostengründen nicht zu wagen, wäre aber armselig und einer Demokratie nicht würdig. Jedes Hochrisiko-Fußballspiel ist teurer. Und es könnte teurer werden, wenn wir anfangen, uns unsere Demokratie zu sparen.
[1] Artikel in der Böblinger Kreiszeitung zur Anfrage der SPD im Landtag, der Schutz der Veranstaltung „kostet den Steuerzahler mehrere Hunderttausenden Euro“ . Leider hinter Bezahlvorhang.
Bildnachweis: SWR Bericht über die Debatte

Schreibe einen Kommentar